PLUS-Beilage (Frankfurter Rundschau)
Das Ostwesen - es entwickelt sich!


von Matthias Biskupek

Die überschrift muß einem Teil der Leserschaft sogleich erklärt werden. Der Satiriker der Sowjetzeit, Michail Sostschenko, erfand einst den Instrukteur Kossonossow, der brave Bäuerlein zum Spenden für das Flugwesen bewegen sollte, und großspurig erklärte, dass Flugzeuge wunderbare Apparate seien, mit ihren drehenden Propellern, die alles - ritsch-ratsch! - köpften, was ihnen in den Weg kam. Auch Pferde? fragten die Bauern sehr ängstlich. Auch Pferde! triumphierte Genosse Kossonossow - das Flugwesen, es entwickelt sich!
Diesen Text, von Manfred Krug einst meisterlich vorgetragen, kannte man in jenem Teil Deutschlands, der von Zone bis Unsere Republik merkwürdige Namen trug. Drum ist der Ausruf "Das Flugwesen - es entwickelt sich!" Erfolgs-Code für alle ehemaligen Bewohner jenes Landes, das als einziger verflossener Staat mit dem Zusatz "ehemalig" bezeichnet wird. Weder Kaiserreich noch Fürstentum Nassau, weder Weimarer Republik noch Königreich Bayern dürfen von sich sagen: Ehemalig.
Ein Alleinstellungsmerkmal - wie stolz das klingt! (Auch diese Anspielung müßte erklärt werden.) Irgend jemand aber erfand für die Ehemaligen jene Mär vom Jammerossi, der sich benachteiligt fühlt, frustriert ist, geborener Verlierer seit dem 7. Oktober 1949 oder spätestens dem 3. Oktober 1990. So spukte es jahrelang durch Medien, deren Heimatorte Hamburg, München, Köln, Frankfurt am Main oder Berlin-Schöneberg heißen. Doch in Wirklichkeit sind ostdeutsch fühlende Wesen schon immer zutiefst davon überzeugt, besser, klüger, kämpferischer, sensibler und vor allem - im ostmitteldeutschen Idiom formuliert: fischelanter - zu sein, als Kölner, Münchner oder Schöneberger. Dieser unerschütterliche Glaube an das eigene Ich, gewachsen in den Stürmen von Mauerbau bis Mauerfall, wird derzeit verstärkt. So verbreitet ganz plötzlich die führende Meinungs-Vielfalt "Ossis sind Bossis". überall schießen Ostdeutsche zum Lichte empor, um ein Bild aus dem Pilz- und Liedwesen, dem sich entwickelnden, zu gebrauchen. Nicht nur Merkel und Platzeck haben Throne erklommen, längst schon stehn im Lichte Ballspieler Ballack und Trainer Sammer, Moderatorin Illner, Schauspieler Stumph, die SängerInnen Emmerlich und Catterfeld, von Wintersportlern und Schriftstellern aller Geschlechter gar nicht zu reden. Und plötzlich hat man nach jahrelanger Forschungsarbeit entdeckt, dass Ost-Lebensläufe anders verliefen - nicht Politikwissenschaft, Anglistik, Soziologie, Junge Union und Praktika in Brüssel und beim Manager-Magazin stehen zu Buche, sondern Mathematik, biomedizinische Kybernetik, Arbeit als Diplomingenieur im Kombinat und bei der Hygieneinspektion, notfalls Theologie. So kam das politische Ostwesen zu heutigem Ruhm, während Schriftsteller und Künstler sich nie jahrelang auf Akademien herumdrücken konnten, sondern Friedhofsarbeiter, Platzanweiser, Krankenschwestern, Kellner und Bühnentechniker gewesen sein mussten, um zunächst den Zirkel-Ruhm des Prenzlauer Berges zu genießen. Doch alle hatten exotische Berufe erlernt: Zerspaner, Rinderzüchter, Facharbeiter für Warenbewegung.
Ein gelernter Ostdeutscher nimmt seine überlegene Sicht aus einem überlebens-Gefühl: Er hat den Zusammenbruch eines Staates schon gesehen. Er weiß die Katastrophe längst hinter sich, die andere ängstlich erwarten. Er weiß, dass nicht alles schlecht ist, wenn scheinbar Festgefügtes wundervoll krachend zusammenbricht. In den siebziger und achtziger Jahren durchlebte das Ostwesen jenes Gefühl, das heute die gesamtdeutschen Massen ergreift: Der Staat ist am Ende. Doch das Privateinkommenswesen entwickelt sich mächtig gewaltig. (Mächtig gewaltig! So jubelten die Kult-Gangster des Osten, die Olsenbande, wenn sie dem faulen Staate Dänemark ein Schnippchen schlugen.) Damals wie heute: überall wird ein bisschen geflickt und das Volk wird mit Reden beschwichtigt - dagegen helfen Humor und Selbstironie und am allermeisten hilft ein gewisser Pragmatismus: man muß sich durchwurschteln.
Da man sich Geschichten erzählen soll, um einander zu verstehen, erzähle ich die passende: Ende der Siebziger war ich - nach Lebenslauf als Maschinenbauer, Kellner, Diplomingenieur, X-Maschinenfahrer (wird nicht erklärt) und Regieassistent - im Kabarett "Fettnäppchen" zu Gera in Thüringen gelandet. Wir suchten dringend Texter - doch die Profis bedienten die Konkurrenz von "Distel" bis "Dresdner Herkuleskeule" und "Leipziger Pfeffermühle". Also suchten wir Amateurschreiber mit Kenntnissen und Witz - und fanden sie bei Mathematikern, Naturwissenschaftlern, Ingenieuren. Diese Leute wussten längst, was ein bis zwei Jahrzehnte später Kommissionen herausfanden: Die Industrie fuhr auf Verschleiß, die Betriebe waren bankrott - aber produzierten munter und immerhin so, dass man gut ins Ausland, sprich: die ehemalige BRD (da steht das Adjektiv richtig) verkaufen konnte. Auch damals stimmte die Außenbilanz. Diese Leute waren wenig ausgelastet - ihre Änderungs-Pläne blieben in den Schubladen - hatten also genug Zeit, Wut und Lust, die Wirklichkeit auf- und umzuschreiben. Wenn wir der Zensur einreden konnten, dass diese Texte auf der richtigen Seite der Barrikade spielten, gab es neben Beifall und Lachen sogar Honorar, doch im Gleichlohnland DDR war dies zweitrangig. Diese Ingenieure waren zwar keine Ingenieure der Seele (Stalin), doch sie konnten analysieren und zumindest auf der Bühne das machen, was sie im Leben gern getan hätten: die Welt etwas intelligenter einrichten.
Ein Jahrzehnt später versuchten viele unserer Textingenieure, das in der Realität umzusetzen, engagierten sich beim "Neuen Forum", bei "Demokratie jetzt" oder dem "Demokratischen Aufbruch" - um sich nach dem kurzen Sommer der Anarchie wieder zurückzuziehen. Jetzt schauen sie wiederum aufmerksam dem ohnmächtigen Treiben des Staates und seiner Diener zu. Und genießen oft schon den Vorruhestand ...
Was in Ganzdeutschland bisher an Wissen und Können der Ostwesen ungenutzt blieb, schadet dem Land nicht weniger, als der DDR ihre seltsame Planlos-Wirtschaft. Drum stimmt das neue Märchen von den Bossi-Ossis nicht. Wer leitet Firmen im Osten? Woher kommen die Chefredakteure? Wen vertreten die Obersten Richter? Warum spricht man im Mitteldeutschen Rundfunk so viel bayerisch, hessisch und westfälisch? Wieso funktioniert jener Witz noch immer? - Die deutsche Einheit ist dann erreicht, wenn der letzte Ossi aus dem Grundbuch ausgetragen wurde.
Wenn die Stadt Göttingen einst berühmt war für Bratwürste und Professoren, so könnte heute eine Ost-Universität berühmt sein, hätte sie mehr Ost- als Westprofessoren. Doch zwischen Jena und Dresden muss die Bratwurst als identitätsstiftendes Merkmal reichen. Die naturwissenschaftlichen Ingenieure, die plötzlich auftauchen - Beispiel Michael Schindhelm an der Spitze der Berliner Opern - mögen Ostwesen sein. Das weltweit agierende Ostwesen jedoch - nun, das entwickelt sich derzeit noch. Zwischen Peking und Bratislava.